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Unsere vertriebenen Nachbarn. Juden im niederösterreichischen Zentralraum – Forschung und Erinnerungskultur

Anhand privater Fotos, Dokumenten und Erinnerungen erforschten die teilnehmenden Citizen Scientists das Leben und Schicksal der jüdischen Bevölkerung Niederösterreichs vor, während und nach der NS-Zeit.

1910 erfasste die Volkszählung in St. Pölten und im Zentralraum Niederösterreich, dem Ein­zugsgebiet der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) St. Pölten, 921 Menschen, die sich als Ju­den bekannten. Von den Nationalsozialisten wurden allerdings auch Personen anderer oder kei­ner Religionszugehörigkeit mit drei jüdischen Großeltern als „jüdisch“ kategorisiert. Sie alle mussten bis Juni 1940 von St. Pölten nach Wien zwangsübersiedeln. Nach den neuesten For­schungsergebnissen wurden 575 Menschen in den Lagern und Ghettos ermordet.


Gegenstände aus dem Nachlass Pilpel-Matusch; Privatarchiv M. Fink, Wilhelmsburg © Institut für Jüdische Geschichte Österreichs
Gegenstände aus dem Nachlass Pilpel-Matusch; Privatarchiv M. Fink, Wilhelmsburg © Institut für Jüdische Geschichte Österreichs
Workshop 14.3.2017, Bildungshaus St. Hippolyt; Injoest © Institut für jüdische Geschichte Österreichs
Workshop 14.3.2017, Bildungshaus St. Hippolyt; Injoest © Institut für jüdische Geschichte Österreichs
Citizen Science Award, 21.11.2017, Martina Fink, Martha Keil, Emina Pjanic, Tina Frischmann, Philipp Mettauer; Injoest © Institut für Jüdische Geschichte Österreichs
Citizen Science Award, 21.11.2017, Martina Fink, Martha Keil, Emina Pjanic, Tina Frischmann, Philipp Mettauer; Injoest © Institut für Jüdische Geschichte Österreichs
Museum des Augenblicks zum Nachlass Pilpel-Matusch, 9. 11.2017, Bildungshaus St. Hippolyt; Injoest © Institut für Jüdische Geschichte Österreichs
Museum des Augenblicks zum Nachlass Pilpel-Matusch, 9. 11.2017, Bildungshaus St. Hippolyt; Injoest © Institut für Jüdische Geschichte Österreichs


Dieses Projekt lud alle Interessierten ein, anhand von privaten Fotos, Dokumenten und Erinne­rungen das Leben und Schicksal der jüdischen Bevölkerung im Zentralraum Niederösterreich vor, während und nach der NS-Zeit zu erforschen. Die Arbeitsorganisation gliederte sich in zwei öffentliche Veranstaltungen zu Beginn und am Ende sowie sechs offene Workshops. Ins­gesamt nahmen etwa 70 Personen im Alter von 17 bis 83 Jahren teil, darunter auch Nach­kommen jüdischer Familien. Alle Veranstaltungen fanden im katholischen Bildungshaus St. Hippolyt in St. Pölten statt, das mit seinem weiten Einzugsgebiet und seiner breiten Ausrichtung unterschiedliche Zielgruppen erschließen und ansprechen konnte.

Die wissenschaftlichen Ergebnisse des Projekts lassen sich in zwei grobe Bereiche einteilen: Einerseits brachten die Teilnehmer/innen Bestände aus ihren Familienarchiven mit, die in ei­nem ersten Schritt identifiziert und digitalisiert wurden, um sie für eine spätere Auswertung zu sichern. Andererseits brachten einige Teilnehmer/innen bereits teilweise erschlossene Bestände mit, deren Reichhaltigkeit und gute Vorbereitung eine intensive Recherche ermöglichte. Be­sonders ertragreich waren der umfangreiche Nachlass einer Familie mit jüdischen Mitgliedern, der auch Sammelgegenstände aus der NS-Zeit enthielt, und das Familienarchiv einer jüdischen Familie aus Wilhelmsburg. Die Beiträge und Ergebnisse wurden bei der Schlussveranstaltung am 9. 11. 2017 im Bildungshaus St. Hippolyt präsentiert und werden unter Wahrung des Da­tenschutzes online gestellt.

In den intensiven Diskussionen der Workshops wurde klar, dass noch immer, 80 Jahre nach dem „Anschluss“, je nach Familiengeschichte nicht ohne Belastung und Unsicherheit über die NS-Zeit gesprochen werden kann. Dieser Befund ist im Rahmen der Frage nach Gedächtnis, Erinnerung und Umgang mit der NS-Vergangenheit eine wertvolle Erkenntnis. Das Enga­gement der Projektteilnehmer/innen gab den endgültigen Impuls, ab Oktober 2018 für die Opfer der Shoah an deren letzten Wohnadressen in St. Pölten „Steine der Erinnerung“ zu setzen.

Citizen Science Award 2017 für engagierte Forscher/innen

Im Rahmen von acht ausgewählten Citizen Science-Projekten, darunter „Unsere vertriebenen Nachbarn“, lud das BMWFW 2017 interessierte Bürgerinnen und Bürger zum Mitforschen ein. Die engagiertesten Citizen Scientists wurden am 21. November 2017 im Rahmen einer Festveranstaltung an der Universität Wien ausgezeichnet und erhielten Buch- und Sachpreise. Die Auswahl der drei Preisträger/innen erfolgte im Sommer durch das Wissenschaftsteam des Injoest. Kriterien waren Beitrag zu den Forschungszielen des Projekts und Engagement bei eigenständigen Recherchen.

Informationen zum Award und den Projekten: Zentrum für Citizen Science