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Entrechtung

„Der Hitler ist an unserem Haus vorbeigezogen mit dem Auto, und am Riemerplatz stand das Volk und brüllte den ganzen Tag »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. Wir haben halt die Fenster fest zugemacht.“ (Olga Willner)


Rathausplatz St. Pölten, vermutlich 1938 © Stadtarchiv St. Pölten
Rathausplatz St. Pölten, vermutlich 1938 © Stadtarchiv St. Pölten
Kundmachung, 14. November 1938
Kundmachung, 14. November 1938


Am Abend des 11. März 1938 strömte eine Menschenmenge am Rathausplatz zusammen. Unter „Sieg Heil“Rufen wurden am Rathausturm zuerst eine kleine und schließlich eine große Hakenkreuzfahne gehisst. Die St. Pöltner Zeitung wurde am 14. März als nationalsozialistisches Parteiblatt „im Sinne der neuen Zeit“ weitergeführt. Sie berichtete höhnisch von privaten Überfällen auf Julius und Jakob Körner und Ernst Schulhof. Mitglieder der St. Pöltner SS drangen in die Wohnungen von Julius und Hilde Frischmann, Betty Frischmann, Hermann Schwarz sowie Ernst und Rosa Schulhof ein und raubten Schmuck, Geld und Wertgegenstände. Die offizielle Bezeichnung dieser Raubzüge der ersten Tage war „Beschlagnahmungen“.

Die Entrechtung der Jüdinnen und Juden erfolgte Schlag auf Schlag: Am 20. Mai 1938 wurden die „Nürnberger Rassengesetze“ eingeführt, die jeden zum Volljuden erklärten, der drei jüdische Großeltern hatte. Juden wurde der Beamtenstatus und die Befugnis zum Rechtsanwalt entzogen. Am 23. Juli 1938 verordnete der Reichsminister für Inneres die Kennkartenpflicht, für Juden versehen mit einem großen „J“.

In alle Dokumente musste der Zusatzname „Sara“ oder „Israel“ eingetragen werden. Die Bewegungsfreiheit von Juden wurde stark eingeschränkt. Dadurch wurden sie systematisch aus dem gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt. Bei Zuwiderhandlung drohte die Verschickung in das KZ Dachau.

Höhepunkt der Stigmatisierung war die Verordnung vom 1. Sep­tem­­ber 1941, den gelben Stern außen sichtbar an der Klei­dung zu tragen. Dies machte den Aufenthalt auf der Straße zu einem Spieß­ruten­lauf. Zu dieser Zeit waren die St. Pöltner Juden schon nach Wien zwangsübersiedelt.

Die letzten Verbliebenen erhielten zum Verlassen der Stadt und zur Übersiedlung nach Wien eine Frist bis Mitte Mai 1940. In Wien wohnten die aus St. Pölten Vertriebenen in sogenannten Sammelwohnungen, bis ihnen entweder doch noch die Emigration gelang oder sie von Wien aus deportiert wurden. Mit Erlass des Ministeriums für innere und kulturelle Angelegen­heiten vom 28. Juni 1940 wurde die IKG St. Pölten aufgelöst und in den Sprengel der IKG Wien eingegliedert. In einer Sitzung des Stadt­rates am 17. Oktober 1941 verkündete Oberbürgermeister Emmo Langer, dass St. Pölten nicht nur „judenfrei“ sondern auch „zigeunerfrei“ sei.